Genomische Selektion - genomische Zuchtwerte: Was ist das?
Bereits seit geraumer Zeit wird über genomische Selektion, Typisierung, genomische Zuchtwerte, etc. in der Fachpresse intensivst berichtet und in Züchterkreisen viel diskutiert

Dieses neue Selektionsverfahren und die durch die Typisierung entwickelte Zuchtwertschätzung sind seit August 2010 in Schleswig-Holstein für die Schwarzbunten und Rotbunten Red Holsteins anwendbar und bestimmen seither unsere Zuchtprogramme.
Das Ziel der Tierzucht besteht darin, die genetische Veranlagung der Tiere zu verändern und dadurch ihre Leistung zu verbessern. Dazu erfolgt bisher eine Selektion anhand der phänotypischen (gezeigten) Leistung als Indikator für die genetisch bedingte Leistungsveranlagung. Ideal wäre es, wenn man die Leistungsveranlagung der Tiere direkt aus den Erbinformationen ablesen könnte, ohne dabei den Umweg über das in direkte Merkmal des Phänotyps zu gehen. Diesem alten Traum kommt die genomische Zuchtwertschätzung und Selektion jetzt sehr nahe.
Obwohl das Genom des Rindes inzwischen entschlüsselt ist, wissen wir dennoch sehr wenig über die Lage und Wirkungsweise der Gene für die Mehrzahl der züchterisch bearbeiteten Merkmale. Daher arbeitet die genomische Zuchtwertschätzung nicht direkt auf der Basis von Informationen zu den Genen, sondern auf der Basis von Markern. Die Entwicklung dieser neuen Verfahren der genetischen Analyse und die Anpassungen der Zuchtwertschätzung wurden mit Unterstützung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) in der Fördermaßnahme FUGATO entwickelt.
Bei den verwendeten Markern handelt es sich um sogenannte SNP (Single Nucleotide Polymorphism) Marker. Sie sind nur einen genetischen Buchstaben lang und es gibt für jeden Marker nur zwei unterschiedliche Varianten in der ganzen Population. Jedes Tier hat die genetische Information in Form eines doppelten Chromosomensatzes, einen Satz vom Vater und einen Satz von der Mutter. Daraus ergibt sich, dass jeder Marker für ein Tier drei Zustände haben kann: reinerbig Variante AA, reinerbig Variante BB oder Mischerbig AB. Mischerbig AB bedeutet, dass das Tier von Vater und Mutter unterschiedliche Varianten bekommen hat.
Es sind viele hunderttausend solcher SNP-Marker beim Rind bekannt. 54.001 davon, die etwa gleichmäßig über das gesamte Genom, d.h. alle Chromosomen, verteilt sind, können inzwischen in einem relativ preiswerten Laborverfahren in einem Arbeitsgang gelesen werden. Diesen Vorgang nennt man Typisierung. Die labortechnische Einheit mit den Tests für die 54.001 Marker nennt man Chip oder 54K-Chip, um die Anzahl der gleichzeitig untersuchten Marker anzugeben.
Gebraucht wird für die Typisierung ein wenig genetisches Material des Tieres. Da alle Zellen eines Tieres über Erbmaterial verfügen, kann man Blut (ca. 2 ml) oder auch Sperma (ca. 2 Portionen) verwenden. Auch aus ca. 30 Haarwurzeln kann man genügend Genmaterial für die Typisierung extrahieren. Allerdings ist bei Haarproben die Gefahr der Verunreinigung mit genetischem Material anderer Tiere höher und das Ergebnis könnte verfälscht sein. Das Ergebnis der Typisierung ist 54.001 mal AA oder BB oder AB.
Durch die gleichmäßige Verteilung von sehr vielen Markern über das gesamte Genom geht man davon aus, dass in der Nähe jedes Gens, das die Leistung in einem der züchterisch bearbeiteten Merkmale beeinflusst, mindestens einer der 54.001 Marker liegt. Das bedeutet, dass der Marker fast immer zusammen mit der entsprechenden Variante des Gens vererbt wird. Die Gene und ihre Wirkung kennen wir aber nicht. Damit der genomische Zuchtwert eines Tieres mithilfe seiner Marker geschätzt werden kann, sind daher zunächst bestimmte Vorleistungen nötig.
Um herauszufinden, welche SNPs, also welche Marker mit welchem Merkmal in Verbindung stehen, müssen zunächst die SNP-Muster mit den sicher bekannten (genetischen) Leistungsveranlagungen von ausgesuchten Tieren verglichen werden. Tiere mit sicher bekannter genetischer Leistung sind töchtergeprüfte Bullen. Aus dem Vergleich von SNPMuster mit genetischer Leistung an diesen Bullen wird ermittelt, welcher SNP wie viel Einfluss auf ein Merkmal hat, d.h. die genomischen Schätzformeln werden so abgeleitet. Je mehr sicher geprüfte Bullen man für diese Formelableitung zur Verfügung hat, desto besser kann man die Zuordnung eines SNPs zu einem Merkmal vornehmen und die Höhe des Einflusses bestimmen. Die geprüften Bullen, die in diese Analyse einbezogen werden, bilden die sogenannte Lernstichprobe. Die an der Lernstichprobe abgeleiteten genomischen Schätzformeln werden anschließend zur Berechnung der genomischen Zuchtwerte von beliebigen anderen (jüngeren) Tieren noch ohne eigene sichere konventionelle Zuchtwertinformation verwendet.
Die Sicherheit der genomischen Zuchtwerte hängt in erster Linie von der Größe und Struktur der Lernstichprobe sowie der Sicherheit der Töchter- Zuchtwerte der Lernstichproben-Bullen ab. Der Datenumfang und die Sicherheit der konventionellen Zuchtwerte auch für alle funktionalen Merkmale sind führend in der Welt. Die Größe und Struktur der deutschen Lernstichprobe ist auch durch den Austausch mit den drei europäischen Partnern aus Frankreich, Skandinavien und den Niederlanden weltweit einmalig. Keine andere Lernstichprobe weltweit ist so gut strukturiert, d.h. repräsentiert die gesamte aktuelle Holsteingenetik aus Europa und Nordamerika. Die genomischen Formeln können die Zuchtwerte junger Tiere nur dann sicher abschätzen, wenn deren Genetik (SNP-Muster) über möglichst viele verwandte Tiere (Vater, Muttersvater, väterliche Halbgeschwister, ...) in der Lernstichprobe möglichst gut repräsentiert ist. Daher muss die Lernstichprobe auch mit der Populationsentwicklung laufend erweitert und aktualisiert werden.
Die Sicherheiten der ausschließlich auf den genomischen Daten (SNP-Typisierung) beruhenden Zuchtwerte für junge Tiere gibt die Tabelle 2 in der mittleren Spalte wieder. Dabei ist die angegebene Sicherheit die realisierte Sicherheit, d.h. sie wurde bereits um die in allen genomischen Schätzverfahren beobachtete Überschätzung korrigiert.
Aus den Typisierungen (SNP-Mustern) werden für alle Merkmale die direkten genomischen Werte (dGW) berechnet. Für alle Tiere mit bekannter Abstammung liegen aber auch immer weitere, d.h. konventionelle Zuchtwertinformationen vor, nämlich immer mindestens der Pedigree-Zuchtwert. Damit auch weiter jedes Tier zu einem bestimmten Zeitpunkt nur einen Zuchtwert mit der maximalen Informationsmenge und Sicherheit hat, wird nicht der direkte genomische Wert veröffentlicht, sondern der genomisch verbesserte Zuchtwert (gZW) als Kombination aus direktem genomischen Wert und konventionellem Zuchtwert. Die Gewichtung erfolgt anhand der Sicherheiten der beiden Werte, d.h. für junge Tiere mit konventionell nur Pedigree- Zuchtwert zählt im wesentlichen der direkte genomische Wert und der unsichere Pedigee-Zuchtwert kann die Sicherheit des genomisch verbesserten ZW (gZW) nur um ca. 3-5% erhöhen (siehe rechte Spalte der Tabelle). Sobald der konventionelle Zuchtwert durch Töchterinformationen deutlich sicherer als der direkte genomische Wert ist, zählt dieser deutlich stärker im kombinierten gZW. Daher unterscheidet sich der kombinierte gZW von töchtergeprüften Bullen meist kaum vom nur konventionellen Zuchtwert.
Die realisierte Sicherheit der genomisch verbesserten Zuchtwerte junger Bullen ist mit ca. 75% für die Milchleistungsmerkmale bzw. 50% für die Töchterfruchtbarkeit deutlich höher als die Sicherheit des bisherigen Pedigree-Zuchtwertes der Testbullen. Daher qualifizieren junge Bullen mit ihren offiziellen gZW jetzt formal als Vererber und Testbullen im früheren Sinne gibt es nicht mehr. Der Vergleich mit den Sicherheiten von töchtergeprüften Vererbern zeigt aber, dass für die hocherblichen und wichtigen Merkmale Leistung, Exterieur und Eutergesundheit selbst Bullen mit ausschließlich Test-Töchtern in der ersten Laktation höhere Zuchtwertsicherheiten haben.
Obwohl die deutschen genomischen Zuchtwerte auf Grund der größten Lernstichprobe mit über 30.000 Bullen die sichersten im internationalen Vergleich sind, sind die genomischen Zuchtwerte unsicherer als die töchtergeprüfter Vererber. Mit stärkerer Betonung der funktionalen Merkmale hat dabei in den letzten Jahren die Bedeutung der Vererber mit Tausenden von Töchtern aus dem Wiedereinsatz zugenommen, da diese hohe Sicherheiten auch für Merkmale wie Nutzungsdauer und Töchterfruchtbarkeit bieten. Die realisierten Sicherheiten der genomischen Zuchtwerte für diese funktionalen Merkmale sind mit ca. 50% noch sehr begrenzt. Wem also bisher die Sicherheiten der ersten veröffentlichten Töchterzuchtwerte neuer Vererber noch zu unsicher waren, für den dürften junge, nur genomisch geprüfte Bullen keine Alternative sein. Auf der anderen Seite eröffnet die junge Generation der nur genomisch geprüften Bullen auch neue züchterische Möglichkeiten. Beim Einsatz dieser jungen gZW-Bullen sollte einem die begrenzte Sicherheit aber immer bewusst sein und das Risiko durch den Einsatz mehrerer solcher Bullen gestreut werden. Die Sicherheitsberechnungen und Angaben für genomische Zuchtwerte sind international noch nicht standardisiert. Die Angaben zu den deutschen genomischen Zuchtwerten sind in jedem Fall realistisch.
Zur richtigen Einschätzung wird bei den deutschen Zuchtwerten auch weiter neben der Sicherheit in Prozent die Angabe der Töchter mit Leistungsinformation erfolgen, so dass jeder den passenden Vererber vom jungen nur genomisch geprüften Bullen über den aktuellen mit Testeinsatz-Töchtern geprüften Bullen bis hin zum bewährten Wiedereinsatzvererber auf objektiver Grundlage auswählen kann.

Mittlerweile werden alle Jungbullen bei der RSH eG und bei den Partnerorganisationen innerhalb der NOG ausschließlich auf der Grundlage der genomischen Zuchtwerte selektiert. Das bedeutet, dass wir in jedem Merkmal hochwertige Informationen über die genetische Leistungsveranlagung des Jungbullen haben und von vornherein Bullenkälber, die unter dem Durchschnitt in bestimmten Merkmalen liegen, nicht zur Station bringen und von einem Einsatz ausschließen. Das Selektionsniveau erhöht sich dadurch sehr stark, die Qualität der Bullen wird deutlich besser und der Zuchtfortschritt wird höher.
Um die richtigen Bullen zu finden, müssen viele Kandidatenkälber typisiert und genomische Zuchtwerte berechnet werden, um die passenden Kälber für die Besamungsstation daraus zu selektieren. Dies ist mit einem sehr hohen Kostenaufwand verbunden. Auf der anderen Seite wird sich die Anzahl der neu eingestallten Jungbullen deutlich reduzieren, weil die Bullen mit schlechter Leistungsveranlagung nicht zur Station und damit nicht zum Einsatz kommen.
Zukünftig wird die RSH eG im Bereich Holstein bzw. Red Holstein pro Jahr nur noch ca. 30 Schwarzbunte und ca. 20 Rotbunte Jungbullen mit gZW einstallen und gemeinsam mit den NOG-Partnern ein optimales Angebot zusammenstellen.
Voraussetzungen für optimale genomische Zuchtwerte sind zuverlässige Leistungsprüfungen. Nur so ist es möglich, auch von den gZW-Jungbullen dauerhaft verlässliche Zuchtwerte aus der Nachkommenprüfung zu bekommen, die wiederum die Basis für die Ableitung genomischer Zuchtwerte darstellen. Ohne verlässliche Leistungsprüfung gibt es keine zuverlässigen genomischen Zuchtwerte. Den klassischen Testeinsatz, wie wir ihn bisher hatten, wird es aber nicht mehr geben, da Bullen mit gZW wie Vererber behandelt werden und bei der breiten Erfassung von Eigenleistungen zuverlässige Nachkommenzuchtwerte bekommen werden. Daher werden auch dauerhaft die Vertragstestbetriebe nicht mehr erforderlich sein.
Eine zeitnahe Information der Mitglieder über aktuelle gZW-Jungbullen ist erforderlich. Dies wird via Internet-Bullendatenbank mit aktuellen gZW-Bullen, die unter dem Label RSH-Genomic geführt werden genauso erfolgen, wie mit separaten Flyern. In diesen wird es immer wieder eine Bullenkarte geben, die auch die entsprechenden Preisinformationen zu den dargestellten Bullen enthalten. Als Highlight werden die NOG-Partner ihre Spitzen-Jungbullen mit genomischen Zuchtwerten austauschen und jeweils die besten 10 gesondert herausstellen.
Es gilt, dass der nachkommengeprüfte konventionelle Vererber mit einer großen Töchterzahl die höchste Sicherheit und Zuverlässigkeit in allen Zuchtwertteilbereichen hat. Dies wird auch zukünftig so sein. Der nachkommengeprüfte Vererber bleibt unser Premiumprodukt, das die geringsten Schwankungen aufweist. Man erhält hiermit nicht den höchsten Zuchtfortschritt, aber ein Höchstmaß an Zuverlässigkeit.
Die gZW-Bullen gehören in jeden fortschrittlichen Betrieb, da sie bei etwas höherem Risiko für höchsten Zuchtfortschritt und die aktuellste Genetik stehen. Der durchschnittliche Einsatz genomischer Jungbullen in schleswig-holsteinischen Betrieben liegt bei ca. 50%. Aus heutiger Sicht können wir Ihnen nur als Empfehlung geben, nicht zu stark auf den Einzelbullen zu setzen, sondern eine etwas breitere Palette genomischer Jungbullen einzusetzen.
Für die Landwirte wird die Auswahl für die richtigen Bullen für ihre Bestände auf Grund der Vielzahl der Bullen nicht einfacher. Die RSH mit Ihren Besamungsbeauftragten ist bemüht, jeder Zeit eine optimale Auswahl genomischer Jungbullen vorzuhalten. Letzteres ist logistisch sicherlich eine DER Herausforderungen im genomischen Zeitalter.
Die genomische Zuchtwertschätzung ist das Zuchtinstrument der Zukunft und wird sich weiter entwickeln und permanent weiter verbessern. Diese Entwicklung sollte jeder Milchviehhalter nutzen, um seine individuellen Zuchtziele effektiver realisieren zu können. Für die Holstein- und Red Holstein-Zucht hat mit der genomischen Selektion eine neue Ära begonnen.
Bei Rotbunt Doppelnutzung sind aufgrund der kleinen Populationen derzeit noch keine genomischen Zuchtwerte vorhanden, so dass sich hier an den bisherigen Zuchtprogrammen und den Angeboten vorläufig nichts ändern wird.
Die Rasse Angler hat sich in den letzten Jahren intensiv mit der genomischen Selektion auseinandergesetzt und hat diese im Januar 2016 etabliert.